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Physiognomien des Lautens I & II – Dort in der Dunkelheit des Kehlkopfs

Gäste: Gerhard Rühm und Monika Lichtenfeld – Sprechen, Marc Sabat – Adapted Viola



I: Ballhaus Naunynstraße Berlin, Samstag, 15. Juni 2002, 20 Uhr


Peter Ablinger: Studien nach der Natur (1997, 2002) 10 kleine Stücke für 6 Stimmen, Uraufführung

Die zehn kurzen Stücke sind vokale Imitationen meist ganz alltäglicher Klänge: Autoverkehr, Zigarettenrauchen, das Summen einer Leuchtstoffröhre, das Ticken einer Quarzuhr etc. – das, was uns ständig umgibt.

Peter Ablinger, 5/02, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002

Peter Ablinger: Studien nach der Natur

Peter Ablinger: Studien nach der Natur (Ausschnitt), © Zeitvertrieb Wien Berlin

 

Leseakt von und mit Gerhard Rühm: abhandlung über das weltall (1964/66)

der „abhandlung über das weltall“ liegt ein wissenschaftlicher vortrag über das weltall zugrunde, der in zunehmendem masse verschiedenen manipulationen unterworfen wird, bis er sich schliesslich von einem sachlich beschreibenden in einen ästhetischen text verwandelt hat, zu einem autonomen hörereignis wird.

der statistischen häufigkeit der phoneme entsprechend, saugen die häufigeren sukzessiv die selteneren auf, bis mit dem übrigbleibenden „e“ (dem häufigsten laut der deutschen sprache) die maximale entropie erreicht ist. die sprache ist, gemäss der voraussichtlichen entwicklung des weltalls, gleichsam den wärmetod gestorben. nach massgabe der wachsender entfernungen im universum emanzipiert sich der text zunehmend von der blossen beschreibung, wird also immer unverständlicher und zugleich elementarer. die lautgebilde werden bis zur unkenntlichkeit deformiert, verlieren schliesslich jeglichen bedeutungsgehalt und präsentieren sich als eigenständige phänomene jenseits der semantik.

eine weitere manipulation betrifft die raum-zeit-beziehung. ebenfalls dem weltall adäquat, dehnt sich der text aus, zerstäubt (nach einem prädeterminierten prinzip), die distanzen zwischen den auseinanderstrebenden elementen vergrössern sich kontinuierlich, die einzelnen elemente werden immer „einsamer“.

der unaufhaltsamen nivellierung und verflüchtigung wirkt jedoch, gleichsam als emotionale reaktion, die artikulation der menschlichen stimme entgegen: eine differenzierung der dynamik und des ausdrucks vom normalen sprechton bis zum flüstern und schreien.

gerhard rühm (2002), in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002

 

Das gespreizte „e“

Es gehört zu den Verdiensten der Avantgarde, sich des in Genres und Formen sicher ausgeprägten Systems der Kunst nicht einfach zu bedienen, sondern dieses auf seine Möglichkeiten und Gesetzmäßigkeiten hin zu befragen. Diese Haltung unterscheidet die wenige avancierte Musik von der großen Masse der bloß neuen, oftmals nicht einmal zeitgenössischen. Den feinen Übergängen zwischen Musik und Sprache nachzugehen, unternimmt das Ensemble Zwischentöne in seiner dreiteiligen Konzertreihe „Physiognomien des Lautens“, die heute im Ballhaus Naunynstraße beginnt.

Gerhard Rühm, Altmeister der experimentellen Sprach- und Textkomposition und Mitbegründer der Wiener Gruppe, bahnt sich zu Beginn den Weg von der Sprache zur Musik. In seiner dreiviertelstündigen „Abhandlung über das Weltall“ (1964/66) verdrängen in einem populärwissenschaftlichen Vortrag die statistisch häufigeren Phoneme nach und nach die selteneren, bis schließlich das 28mal wiederholte, durch lange Pausen gespreizte „e“ übrigbleibt. So verwandelt sich Sprache zu klingendem Material. Den inneren Monolog der Opern-Arie nimmt Michael Hirsch in seiner 2. Studie zum „Konvolut, Vol. 2“ wörtlich als von den Darstellern stumm vollzogenen Text, aus dem nur einzelne Fragmente kurz herausplatzen. Peter Ablinger betrachtet in seinen knappen, heute uraufgeführten „Studien nach der Natur“ Alltagsgeräusche vom Autoverkehr bis zum Mückensummen, die sechs Sänger nach genau ausnotierter Partitur klanglich nachahmen. Zusammen mit Werken von Josef Anton Riedl und Harry Partch entsteht so ein abwechslungsreiches Kompendium avancierter Sprachbehandlung.

Volker Straebel, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Berliner Seiten, 15. Juni 2002

 

Gerhard Rühm liest: Abhandlung über das Weltall

Gerhard Rühm liest Abhandlung über das Weltall

 

bemerkungen zur lautdichtung

die konsequente lautdichtung oder „phonetische poesie“ ist die einzige wirklich internationale, das heisst, keine übersetzung benötigende gattung der literatur wenn auch in der artikulation des vortragenden noch spuren der typischen färbung seiner muttersprache vernehmbar sind. selbst regionale unterschiede der aussprache können sich noch bemerkbar machen (im deutschen etwa beim „r“ eines bayern und dem eines norddeutschen).

durch die freisetzung der phoneme aus dem geregelten wortverbund und damit den verzicht auf semantik, verfügt die lautdichtung über einen nahezu unbeschränkten vorrat nuanciertester lautelemente, die durch verwendung mehrerer stimmen (simulteneität muss nicht mehr auf wortverständlichkeit achten) sowie die nutzung technischer hilfsmittel polyphon verdichtet und weiter differenziert werden können.

die meisten meiner lautgedichte, die nur für einen sprecher konzipiert sind, beschränken sich auf noch erkennbare sprechlaute, sparen also darüber hinausgehende mund- und körpergeräusche aus. so bleibt ein wenn auch rudimentärer, gleichwohl emotional nachvollziehbarer sprechgestus gewahrt. zudem kommt der spezifische ausdruckscharakter der verschiedenen laute, der normalerweise durch ihre dienende rolle als bedeutungsträger verblasst, wieder in seiner ursprünglichen präsenz unmittelbar zur geltung.

im interesse einer klaren terminologie sollte innerhalb der zum vortrag, zum hören bestimmten „auditiven poesie“ grundsätzlich unterschieden werden zwischen klanggedichten („sound poetry“), die ausdrücklich dem rhythmischen klangkörper des gesprochenen wortes verpflichtet sind, und lautgedichten („phonetic poetry“), deren kompositionsmaterial der einzellaut mit seinen nun allseitig offenen kombinationsmöglichkeiten ist.

wie die ungegenständliche bildnerei einen eigenständigen bereich innerhalb der bildenden kunst repräsentiert, so die lautdichtung als asemantische poesie in der dichtung. da wie dort sind, auf der gemeinsamen basis allgemein verbindlicher physiognomik, mannigfaltige zwischen- und mischformen denkbar.

das visuelle pendant zur „phonetischen poesie“ ist in der optisch orientierten „visuellen poesie“ die „typografische poesie“ als rigorose reduktion auf buchstabenformen – von der handschrift bis zur druckschrift.

gerhard rühm




II: Ballhaus Naunynstraße Berlin, Samstag, 15. Juni. 2002, 21.30 Uhr


gerhard rühm: zeitung – stets aktuelles simultanstück (1962) für ensemble (kurt schwertsik gewidmet)

die jeweils aktuelle tageszeitung wird in gleich grosse teile (etwa postkartenformat) gerissen und an die ausführenden (mindestens vier) verteilt. jeder notiert, nachdem er die vorder- oder rückseite gewählt hat, in der ecke des blattes fortlaufend (siehe unten) die wartezeit zu seinem (lese)einsatz und die lautstärke. sodann werden die blätter gemischt. nach dem startzeichen zählt jeder stumm die wartezeit seines erten blattes ab, liest dan den text von beginn an (auch wenn er auf ein wortfragment fällt) in der angegebenen lautstärke vor und lässt es nach dem ersten erscheinen des wortes „und“ (dieses wird noch mitgesprochen) fallen. darauf wird mit dem nächsten und allen weiteren blättern ebenso verfahren. normales sprechtempo.

wartezeiten: 5 sec., 10 sec., 15 sec., 20 sec., 30 sec., 50 sec. lautstärken: geflüstert (pp), leise (p), normal (mf), laut (f), geschrien (ff).

gerhard rühm, 1962

 

Zeitung

Ensemble Zwischentöne: zeitung von Gerhar Rühm (Probenfoto)


Josef Anton Riedl: leill eist, veicht seivt: (1977/79) 2 Gedichte für Sprecher oder Gedicht für 2 Sprecher



Harry Partch: Lyrics by Li Po (1930-33) für Bariton und Adapted Viola

Die Seventeen Lyrics by Li Po stellen die erste erhaltene Komposition von Harry Partch dar. 1942 schrieb Partch über diesen Zyklus:

„The six lyrics of Li Po are set to music in the manner of the most ancient of cultured musical forms. In this art the vitality of spoken inflections is retained in the music, eyery syllable and inflection of the spoken expression being harmoized by the accompanying instrument. The musical accompaniment, or, more properly, complement, in addition to being a harmonization, is an enhancement of the text-mood and frequently a musical elaboration of ideas expressed.

The 300 years of the T´ang dynasty produced China´s finest lyric poets. Li Po (701–762), born in eastern Shantung province, is considered by many scholars as the foremost of these „Golden Age“ poets. At about middle life Li Po was placed under imperial patronage, but at court he incurred the displeasure of Yang Kuei-fei, one of China´s famous beauties, and was banished to the Southern and Eastern provinces. It was after he learned of his impending exile that he had the dream which he recounts in his long poem so titled.

The first few lines of A Dream are purely introductory, the dream itself beginning with the line, The moon in the lake followed my flight ... His awakening, and the passing of the dream, Li Po compares to the waters of the river. The rivers of China, all bearing in a general eastern direction, have so capriciously held the power of life and death over the people that they quite naturally become symbols of human existence. As the dream vanishes, so must all pleasures of life: All things pass with the east-flowing water. Whatever parallels or analogies are obvious to the Chinese mind in the extravagant fantasies of the dream, to any hearer the fantasies serve to emphasize the reality of the awakening, the iminent exile, and the final lines: How can I stoop obsequiously and serve the mighty ones? It stifles my soul.

The 43-tone-to-the-octave system developed by Harry Partch is eminently appropriate to the subtle intonations that inhere in Li Po lyrics. In The Night of Sorrow the Adapted Viola anticipates each line of the lyric in the exact inflection pattern of the spoken words as Partch had interpreted them.“

 

Rainer Killius and Marc Sabat perform Harry Partch

Rainer Killius und Marc Sabat spielen Harry Partchs Lyrics by Li Po

 

Die Adapted Viola

Die „Adapted Viola“, adaptiert an die von Harry Partch entwickelten „Monophonie-Prinzipien“, unterscheidet sich von der gewöhnlichen Viola in folgenden Punkten:
Der Hals des Instruments ist länger, so daß Griffe im 43-tönigen System ermöglicht werden; in das Griffbrett sind Perlmutteinlagen und knopfartige Erhebungen eingesetzt, die das exakte Greifen der Intervalle erleichtern; gestimmt ist das Instrument eine Oktave tiefer als die Violine, der Tonumfang liegt also zwischen dem der Viola und dem des Cellos; die Adapted Viola wird mit einem Cellobogen gespielt, und die drei tieferen Saiten sind Cellosaiten.

Griffbrett Adapted Viola

Schematische Darstellung des Griffbretts der Adapted Viola

Harry Partch

1901–1974. 1925 erstes Streichquartett in „Just Intonation“. 1927 Entwicklung der „Monophonic Principles“. Seit 1929 Bau von Instrumenten in neuen Stimmungen (Adapted Viola, Chromelodeon, Kithara, Chromatic Organ u. a.). 1934 Forschungsarbeiten am British Museum. 1935–43 als Hobo auf den Straßen Amerikas. 1949 Publikation des Buches „Genesis of a Music“. Ab 1960 rituelle Dramen und Opern.

"Partch detested the ‚inhibitory incubus of tight coats and tight shoes’; he abhorred the second-class-citizen idea of the orchestra pit and the obsessive formality of the concert stage. By elevating musicians from the pit onto the stage he dignified them socially while reminding them that they cannot hide from their own physical presence. By composing ritual dramas, he replaced the redundant formality of the concert stage with a more opaque alternative. By sidestepping most of the fashions of western composition he joined Charles Ives and John Cage as truly alternative musician-thinker. A pluralist in an age cursed by specialization, multi-cultural before it was de riguer, Partch, in his own way, may be considered a social reformer, an evangelist, and martyr. Ultimately, it is not so much what Partch did that is important, but what he stood for: there is no compromise in the search for truth, dig deep with passion and question assumptions to find the human strain. Anything else is an entirely different serving of tapioca.“ (Philip Blackburn)


Michael Hirsch: 2. Studie zu „Das Konvolut, Vol. 2“ (2002) für 2 Stimmen, Flöte, Violine, Klavier, 2 Schlagzeuger und Zuspielung, Uraufführung

Nach dem für das Kammerensemble Neue Musik Berlin im Auftrag des Festivals „MaerzMusik“ geschriebenen ersten „Volumen“ des Werkkomplexes „Das Konvolut“, besteht das nun in Angriff genommene „Volumen 2“ aus einer Sammlung mehrerer zunächst unabhängig entstehender Studien, die später zu einem Gesamtablauf zusammengefügt werden (die „1. Studie“ entstand für die Maulwerker). Jeder dieser Studien liegt eine besondere Aufgaben- oder Fragenstellung , bzw. eine Versuchsanordnung zugrunde. Die dramaturgische Anlage dieser „2. Studie“ steht dabei im stärkst möglichen Gegensatz zur „1. Studie“, wo eine mehr oder minder vollkommen statische Situation etabliert wurde. In der „2. Studie“ herrscht hingegen eine Dramaturgie extremer Zersplitterung. Das sprachliche Material der beiden Vokalisten basiert auf dem Zusammenschnitt kurzer Bruchstücke von verschiedenen Arientexten aus den Opernlibretti von Pietro Metastasio (1698-1782). Die Abfolge der Bruchstücke ergibt einen neu sich zusammensetzenden Text, der eine Art Beziehungsdrama zwischen den beiden imaginären Personen evoziert. Die Vokalisten lesen die Textfragmente freilich nur stumm und machen nur knappste Splitter ihrer Lektüre hörbar. Die Eigenschaft der Arientexte als innere Monologe wird somit sehr wörtlich genommen, so daß sie nur in jenen kurz aufblitzenden vokalen Resten kurz nach außen gekehrt werden und vielleicht gerade im Nicht-Aussprechen-Können einen Gefühlsstau beschreiben, der den extremen emotionalen Zuständen, von denen diese Texte handeln, auf einer artifiziell erzeugten Ebene entspricht.

Auch die Parts der beiden nur mit kleinen Steinchen spielenden Schlagzeuger basiert auf der stummen Lektüre solcher Textfragmente, die sie zur Rhythmisierung ihrer Steinschläge nutzen. Die drei Instrumentalisten schließlich artikulieren keine ausformulierten musikalischen Gestalten, sondern ebenso nur Splitter und punktuelle Ansätze von instrumentalem Spiel.

Die Großform der 8-minütigen Komposition besteht aus 24 verschieden langen Momentaufnahmen, in denen sich mosaikartig die diversen Zersplitterungsprodukte zu jeweils verschieden definierten Ausdrucksfeldern neu zusammensetzen.

Michael Hirsch, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002


Gerhard Rühm: zwei lautgedichte (2000)

Gerhard Rühm: sprechduette nach deutschen volksliedern (1987)

 

Gerhard Rühm, geboren 1930 in Wien, studierte Klavier und Komposition an der Wiener Musikakademie, danach privat bei Josef Matthias Hauer, und beschäftigte sich während eines längeren Aufenthalts im Libanon mit orientalischer Musik. Mitte der fünfziger Jahre war er Mitbegründer der „Wiener Gruppe“ (Achleitner, Artmann, Bayer, Rühm, Wiener), der 1997 eine grosse Retrospektive in der „Biennale di Venezia“ ausgerichtet wurde. Rühm wurde zuerst durch Buchveröffentlichungen experimenteller Poesie bekannt. Von Anfang an aber intermedial orientiert, entwickelte er Dichtung vor allem in Grenzbereichen weiter – sowohl zur bildenden Kunst (visuelle Poesie, gestische und konzeptionelle Zeichnungen, Fotomontagen, Buchobjekte) als auch zur Musik (auditive Poesie als Sprech- und Tonbandtexte, Chansons, Melodramen, Vokalensembles, Ton-Dichtungen). Sein Wirkungsbereich umfasst literarische, musikalische und bildnerische Publikationen (u. a. bei Rowohlt, Luchterhand, Hanser, Residenz, Haymon), Vorträge, Konzerte, Ausstellungen, Theateraufführungen und Rundfunkproduktionen (wichtige Beiträge zum „Neuen Hörspiel“, Karl-Sczuka-Preis 1977, Hörspielpreis der Kriegsblinden 1983). Österreichischer Würdigungspreis für Literatur 1976, Preis der Stadt Wien 1984, Grosser Österreichischer Staatspreis 1991. Umfassende Präsentation seiner Arbeit beim Steirischen Herbst Graz 2001.

Rühm lehrte 1972-1995 als Professor an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste in Hamburg sowie mehrmals an der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst in Salzburg.

Klavierstücke, Lieder und Melodramen erschienen im Thürmchen Verlag Köln und in der ORF-Edition Zeitton, Hörspiele auf CD bei Wergo.