[zurück]

Physiognomien des Lautens III & IV – Eine Linie ziehen

Gäste: Robin Hayward – Tuba, Klaus Lang – Sprechen, Natalia Pschenitschnikowa– Flöte, Chiyoko Szlavnics – Altsaxophon

 



III: Musikinstrumenten-Museum Berlin, Donnerstag, 4. Juli 2002, 19 Uhr



Leseakt von und mit Klaus Lang: fische.sterne. (2001)

fische.sterne.

1

Die beste Art Fisch zu kochen ist ihn nicht zu kochen. Das in Japan vielleicht beliebteste Gericht ist sashimi, also kunstvoll geschnittener und arrangierter roher Fisch.

Die Kunst der Zubereitung von sashimi besteht nicht darin, den rohen Fisch als Ausgangsmaterial zu verarbeiten und zu kochen, und ihn dadurch zu verändern, sondern darin, rohen Fisch auszuwählen, ihn zu schneiden, zu kombinieren und zu arrangieren. Der Koch verändert den Fisch nicht und fügt ihm nichts hinzu. Er ermöglicht die Entfaltung des Gegebenen, dessen, was schon von vorneherein im Fisch vorhanden war, und macht es dem Gaumen zugänglich.

Der Eindruck, den Fisch auf die Geschmacksorgane macht, ist einerseits von der Stärke der abgeschnittenen Fischstücke, andererseits von der Art des Schneidens abhängig. Das Schneiden von Fisch hat sich zu einer strengen Regeln folgenden Kunst mit langer Tradition entwickelt. Die entscheidenden Parameter sind hierbei Schneidedruck, Schneidestelle, Schneidegeschwindigkeit.

2

Unaussprechlich schön ist die leuchtende Klarheit der Sterne in den Dunkelheiten des Universums. Verloren steht man der unfaßbaren Komplexität der Himmelsgeometrie gegenüber und doch: drei Buchstaben reichen aus, um eine der wichtigsten Theorien über das Universum zu formulieren. Dagegen ist, wie man an den Pfützen im Schlamm sieht, Dunkelheit keineswegs ein sicheres Zeichen von Tiefe, genausowenig wie Kompliziertheit. Eleganz und Einfachheit zeichnen wichtige physikalisch-mathematische Formeln aus, ihr Ziel ist es das Komplexe mit einfachen Mitteln zu beschreiben oder zu erzeugen.

Klaus Lang, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002

 


Antoine Beuger: landscapes of absence (2): „als teilte sich das meer“ (2002) für Sprechstimme und Tuba, Uraufführung

Nach mehrjähriger Beschäftigung mit der Dichtung von Emily Dickinson ist in den Jahren 2001 bis 2002 der Zyklus „landscapes of absence (2)“ entstanden, der sich mit der Möglichkeit der musikalischen Vertonung dieser Lyrik (und Literatur im allgemeinen) auseinandersetzt.

Die Frage nach der Vertonung ist eigentlich die Frage, was passiert, wenn ein geschriebener Text laut gelesen wird: eine Stimme, einen Klang bekommt. Es ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen Geschriebenem und Gesprochenem.

Gedichte – und Emily Dickinson’s Gedichte in ganz besonderem Masse – sind geschriebene Sprache. Als Geschriebenes liegen sie vor uns. Wir können sie mit dem lesenden Blick durchqueren, in jede Richtung, können uns auf Einzelnes (Zeilen, Phrasen, Wörter, Silben, Buchstaben) konzentrieren, weit auseinander Liegendes miteinander verbinden, ihre Materialität abtasten, wieder und wieder lesen, Einzelnes auslesen, sie in ihrer Auslegung auf der Seite betrachten.

Das laute Lesen, der Vortrag eines Gedichtes, wandelt diese Vorlage in einen Vorgang um: die Stimme geht sprechend durch das Gedicht, es aus seiner offenen Räumlichkeit heraushebend in eine einmalige Verzeitlichung. Es mag dabei öfters so erscheinen, als sei das Geschriebene die Niederschrift eines Gesprochenen, das nun durch das Re-zitieren wieder hörbar gemacht wird.

Im Gegensatz zu einer vereinmaligenden, sinn-suchenden, eindeutenden Vertonung, bzw. Stimmgebung, wollte ich so nah wie möglich an der Schrift bleiben, eine Stimme finden, die das Gedicht als Geschriebenes liest und nicht auf der Suche geht nach einem Gesprochenen hinter dem Geschriebenen.

Eine Lösung meine ich gefunden zu haben in einer dem Schreiben begleitenden Stimme, die die Schrift fast eher beiläufig zum Klang werden lässt, den Kontakt zu ihr nicht verliert und sich nicht von ihr abhebt in ein sagendes Sprechen. Eine Stimme, die fast nicht da ist.

„landscapes of absence (2)“ ist wie eine Reihe von „Liedern“: Dickinson-Vertonungen für jeweils eine Stimme und ein Instrument. Allerdings dauert jedes Lied 100 Minuten, und ist die Stimme keine Singstimme, sondern eine wie oben beschriebene „Sprechstimme“. Jedes Lied ist eine sehr langsame, sehr leise stimmliche Abschreitung der einzelnen Silben des zugrunde liegenden Gedichtes. Viel Zeit zwischen den Silben.
Stimme und Instrument bilden keine Einheit, sondern eine Zweiheit (sie kommen nie zusammen). Auch das Instrument (für jedes Lied ein anderes) ist kaum da: ganz wenige, einzelne Klänge am Rande der Wahrnehmbarkeit.

Die einzelnen Stücke sind sich sehr ähnlich (gleiche Dauer, gleiche Stimme, syllabische Lesung, sehr zurückgenommen) aber auch jedes für sich etwas Singuläres: gerade Ähnliches stellt sich als subtil unterschiedlich heraus, es entstehen deutlich spürbare, aber kaum benennbare Differenzen.
„landscapes of absence (2)“ umfasst 19 Stücke.

Antoine Beuger, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002

 

Antoine Beuger: "landscapes of absence"

Antoine Beuger: landscapes of absence (2)

 

As if the Sea should part
And show a further Sea –
And that – a further – and the Three
But a presumption be –

Of Periods of Seas –
Unvisited of Shores –
Themselves the Verge of Seas to be –
Eternity – is Those –

Emily Dickinson, um 1863

 



IV: Musikinstrumenten-Museum Berlin, Donnerstag, 4. Juli 2002, 21.30 Uhr


Dieter Schnebel: tutti punktuell / zugleich, aus: Maulwerke – für Artikulationsorgane und Reproduktionsgeräte (1968-74) für Ensemble


Rainer Killius: Verwehungen I: lass dy punct lawffen (2002) für Sprechstimme, Uraufführung

Verwehungen I ist das erste einer Reihe von Stücken für Ensemble mit beliebig vielen Spielern. In diesem Zyklus geht es um zweierlei: erstens, eine spezifische Art der Klangerzeugung (gestrichene Saite, geschlagene Metallplatte etc.) gleichermaßen elementar und höchst differenziert zu erspüren und hörbar zu machen; zweitens, verschiedene Schichten einer Musik übereinander zu legen, die sich aus unterschiedlichen Graden der Spielfertigkeit ergeben. Ein und dieselbe Person kann auf dem einen Instrument ein Virtuose sein, auf dem anderen vielleicht ein einfaches Stück spielen, und auf dem dritten gerade einmal einen Ton hervorbringen.

Im Vertrauen auf eine grundsätzlich vorhandene Neugier jedes Spielers – gleich welcher Fertigkeit – schreibe ich somit mehrere unterschiedlich ausdifferenzierte Fassungen und lege sie übereinander. Dabei entsteht der Eindruck einer Haupt- oder Mittellinie, die immer wieder verwischt oder auch gebündelt wird.

Im vorliegenden Stück ist es die Solo-Stimme (im wörtlichen Sinn), die sich durch Tagebuchaufzeichnungen und Notizen von Albrecht Dürer (1471-1528) einen Weg bahnt.

Rainer Killius, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002


Tubasprechakt von und mit Robin Hayward: Self-Portrait with Phonograph (2002) für mit einem Phonographen verbundene Tuba, Uraufführung

Eine durch die Tuba wiedergegebene phonographische Aufnahme der Stimme des Tubaspielers wird mit von der Tuba live erzeugten Klängen kombiniert. Sprache wird als Klang benutzt – der Sinn der ausgewählten Worte ist dabei von geringer Bedeutung und kann für verschiedene Aufführungen verschieden sein. In diesem Fall spiegelt das verwendete Englisch die Muttersprache des Spielers wider.

Robin Hayward, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002


Ellen Fricke: zweitausendzwei (2002) für Stimme, Uraufführung

Von endlichen Mitteln einen unendlichen Gebrauch machen. (Noam Chomsky)

Wie erkläre ich anschaulich das Prinzip der Rekursion? Vor diesem Problem stand ich in einer meiner Einführungsveranstaltungen in die Linguistik. Ich experimentierte mit verschiedenen Mustern von Symbolverkettungen, Reihen bestehend aus unterschiedlichen Anordnungen von Quadraten, Kreisen, Herzen usw. Ein Muster fand ich besonders hübsch, auch weil es so einfach war, nämlich in der Mitte ein Kreis, an welchen sich links und rechts bei jedem Rekursionsschritt Quadrate anschließen, so dass sich eine im Prinzip unendliche Reihe von Quadraten ergibt, halbiert durch einen Kreis in der Mitte. Erst nachdem ich mich verstärkt mit Palindromen beschäftigte, fiel mir auf, dass es sich dabei um eine Erzeugungsregel für ein im Prinzip unendlich langes Palindrom handelt, von vorn und hinten gleich zu lesen, eine Symbolkette an einer Achse gespiegelt.

Eine derartige Spiegelung liegt auch der Jahreszahl 2002 zugrunde, dem Jahr, das wir gerade durchlaufen. Und da die nächste palindromische Jahreszahl erst wieder im Jahr 2112 zu erwarten ist, lag es nahe, aus aktuellem Anlass ein Palindrom, basierend auf den Ziffern 2 und 0, zu schreiben. Als Interventionen fungieren palindromische Einstreuungen von Wörtern, Sätzen und Phrasen, von denen einige dem Palindromgedicht „Bon Soir, Rio Snob!“ Jost Gipperts entnommen sind.

Durchläuft man die Rekursionsschritte rückwärts, ergibt sich das Negativ zur Palindromgenerierung. Entsteht das 2002-Palindrom aus einem imaginären Mittelpunkt heraus und wuchert seitlich nach links und rechts ins Unendliche hinein, so fressen sich in das Palindrom bei einer Rückwärtsbewegung Löcher, kontinuierlich wachsende, alles verschlingende Löcher. Vegetationspunkt und Implosion, Wuchern und Verschwinden oder eben 2002.

Ellen Fricke, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002


Bernhard Lang: Schrift 1.2 (1998) für Flöte solo

über schrift 1.2

in den stücken „versuch über das vergessen“ und „icht“ begann ich, streng algorithmisch organisierte strukturen mit einer art kritzelschrift zu übermalen. diese kritzeleien wurden einerseits durch christian loidls schreibtechniken, andererseits durch die improvisationssessions mit dem ensemble „picknick mit weismann“ angeregt. sie stellen den versuch eines schreibenden improvisierens dar.

bald überwog das interesse an eben diesen schriften dasjenige an konstruktiv komponierten musikalischen strukturen, den „basteleien“.

„schrift 1“ war das erste stück dieser neuen serie, „schrift 1.2“ stellt eine spätere überarbeitung und neunotation dar.

bernhard lang wien 290402, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002


Klaus Lang: der weg des prinzen III / frösche.berge. (2002) für Frauenstimme, Viola, Akkordeon, Flöte, Saxophon, Vibraphon, Plastikflaschen, Uraufführung

 

Klaus Lang