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Physiognomien des Lautens V & VI – Naturgesänge

Gäste: Robin Hayward – Tuba, Wolfgang von Schweinitz – Elektronik



V: Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart Berlin, Sonntag, 14. Juli 2002, 19 Uhr

 


Leseakt von und mit Peter Ablinger: weiß/weißlich 11b (seit 1994), Prosa


Performanceakt von und mit Wolfgang von Schweinitz: Naturgesang mit Fröschen und Rotbauchunken (2000, 2002) op. 41, livedigitale Klangeinspielung, öffentliche Uraufführung

Unmittelbar nach dem Tod meiner Mutter und meines Vaters war ich Anfang 2000 zur Erholung vier Monate lang im Künstlerhaus Schloss Wiepersdorf. Dort habe ich meinen ersten, mit/dank der posthumen finanziellen Unterstützung der Eltern erworbenen Computer ausprobiert und die 1997 herausgekommene Musiksoftware Max/MSP studiert.

Nach der groben Zäsur hat es mir sehr geholfen, etwas für mich radikal Neues anzufangen. Und es waren die Frösche da mit all ihren Frühlingshormonen – dazu noch sogar die hier bei uns fast schon ausgerotteten Rotbauchunken.

Also lag es nahe, am ersten Abend im Mai mit zwei guten Mikrophonen einmal ins Moor zu gehen, um die 74 Minuten komplexminimaler Musik für die CD so stereophonisch wie möglich einzufangen.

Die nicht edierte Originalaufnahme aus der Wiepersdorfer Wasserheide wird im Café des Hamburger Bahnhofs zu hören sein, während ich sie zugleich im überakustischen Nebenraum mit meinem ersten eigenen MSP-Konzertprogramm im Spontanvollzug der livedigitalen Klangeinspielung quadrophonisch moduliere. Hoffentlich gelingt es dabei, etwas zumindest von der Frische & Freude des allerersten Computerspiels noch einmal wieder entstehen zu lassen.

Wolfgang von Schweinitz, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft, Juni 2002



VI: Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart Berlin, Sonntag, 14. Juli 2002, 21 Uhr


Georg Nussbaumer: Märchen vom Lied vom Wald (2002) 6 Spieler mit Zugsägen und Rosshaaren und einer Äste-Installation, Videoprojektion/Dämmerung, Hieronymus-Bosch-Graphik, Tuba/Fleischwolf/Zunge, Uraufführung

Der Wald erzeugt den Wind. Die Blätter fächeln einen Aufruhr in die Luft, der sich erst in den wandernden Dünen der Sand- und Eiswüsten legt. Dort wo labile Körnchen/Teilchen-Masse Stille erzeugt, sofern der Unruhefaktor Wasser fern oder durch Kälte gebunden ist.

Der stille Wald, der schöne Wald, der kühle, der schützende, die Waldesruh: Beschwörungsformeln deutscher Waldangst; jahrhundertelange Dendrophobie als Generator einer beschönigenden Kulturarchitektur. Gernot, Gunther, Giselher: kleine Seufzer in einem übermächtigen Baumorganismus. Eschenbachs Helden (um ihres Lanzenverbrauchs als „Waldvernichter“ bewundert): nichts als Kapitulanden vor der erschütternden Selbstheilungskraft ihrer Umwelt.

Die Säge ist die Waffe am Wald. Dass sie Zähne hat, um ins Fleisch ihres Gegners zu schlagen, verwundert kaum; dass die Bewegungsform des Sägens (in der Prä-Kettensägenära – aber nur diese ist für das Folgende relevant) auch fürs Spielen von Streichinstrumenten maßgeblich ist, ist schon markanter. Jedoch (der Kreis schließt sich, wie beim Aufsetzen des Bogens auf die Saiten): Was quillt beim Schneiden in Bäume aus diesen? Und was haftet nicht nur am Sägeblatt, sondern – unter dem Pseudonym „Kolophonium“ – auf der Rosshaarbespannung des Bogens? – Harz.

Das klebrige Hindernis beim Sägen ist Voraussetzung fürs Geigen. Ohne Harz würden die Bogenhaare nur chhhhhhhhhhhhhh über die Saiten gleiten. Der vom Fällen des Baumes bis zum ersten Strich des Bogens aufgebrachten Energie wäre wieder (nur?) dieses in den Blättern ohnehin längst vorhandene Rauschen entsprungen.

Gibt es auch in Bernstein eingeschlossene Klänge? (Vielleicht ein Stückchen eines Saurierschreis?)

Die Zunge ist das Singen, wie das Singen der Kuss und der Kuss der Geschmack, über den non disputandum est.

Sängermeister: Rein in die Wälder, raus mit den Zungen!

Und wer hört zu? – Der Fleischwolf. Der Fleischwolf ist das Ohr: Schalltrichter zum Empfang des Liedes (passiv) und kurbelbetriebene Schnecke (aktiv) zur Verarbeitung des Liedes. Nachdem der Fleischwolf das flüchtige Lied gehört hat, ist es amorph, als markante Struktur verschwunden. Ein Knäuel benutzter Schallwellen. Die Tuba ist ein goldener Ohrenrachen („Warum hast Du so große...?“).

In der Dämmerung beginnt auch der Wald zu hören; und das Feld zu sehen (die Ackerschollen als Augenlider).
Der Wald ist ungut, das „Märchen vom Lied vom Wald“ eine süße Geigenweise.

Georg Nussbaumer, in: Physiognomien des Lautens, Programmheft Juni 2002

 

 

Ensemble Zwischentöne spielt Georg Nussbaumer


Ensemble Zwischentöne spielt Georg Nussbaumer

 

Ensemble Zwischentöne spielt Georg Nussbaumer

Georg Nussbaumer: Märchen vom Lied vom Wald

 

Georg Nussbaumer: Märchen vom Lied vom Wald (Ausschnitt), © Ariadne-Verlag