[Aufsatz erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik, 5/2003]
Hochbunker Neustädter Straße, Bielefeld, 20. September 2002,
nachts:
Vorbei an mit alten Kleidern vollgestopften Kunststoffsäcken durch einen
winkligen, schmalen Gang hinein in den Brustkorb, wo sich Besucher mit Plänen
des Bunkers in der Hand stauen. Eine Treppe führt hinauf zum Kopf, eine
andere hinab in den Unterleib, wo es später bellen wird. Es gibt keine
Gesamtschau, keine autorisierte Perspektive, jede/r bahnt sich einen eigenen
Weg mit freien Verweildauern und eigenen Einverleibungen der orphischen Fragmente.
Der Besucher als Mänade liegt in der Logik der Auführungsituation:
Er begeht und begegnet Orpheus als Mythos, als Leib, als Bunker, als Imagination
des Komponisten Georg Nussbaumer, als seinem eigenen Unbewussten, als prothetischem
und pathetischem Fragment, das in eineinhalb Stunden sich belebt, ersteht und
erstirbt, als parzelliertem, kartographiertem Leib, der in unserer Gesellschaft
sich in medialen Verwertungen, anatomischen Zurichtungen und in Artikeln der
Sexshops inkarniert.
orpheusarchipel. eine installationsoper der Titel der Uraufführung
ist Programm: Aus den vielen Fassungen des Mythos und seiner Verarbeitungsgeschichte
angeschwemmte Materialien stranden als reale Objekte an den Inseln des orpheusarchipel
und beteiligen sich als Instrumententeile oder Instrumentalinstallationen nicht
nur an der Klangebene, sondern auch als visuelle Bedeutungs(über)träger.
(Georg Nussbaumer im Programmheft ORFEO des Theater Bielefeld) Dieses Sammelsurium
wird gemäß der Topographie des menschlichen Leibes verortet. Die
Gleichungen Obergeschoss = Kopf = Verstand = Götterwelt, Erdgeschoss =
Brust = Gefühl = Menschenwelt und Untergeschoss = Rumpf = Trieb = Unterwelt
sind Ordnungsprinzip und Schlüssel zur Ent- und Verrätselung.
Aus: Orfeo, Programmheft, Theater Bielefeld 2002
Rätsel eins: Wo ist Eurydike? Wer in den Bunkeretagen Eurydike vermisst,
sucht zunächst vergebens, denn sie ist in dem Installationsteil orpheusautomat
als Schildkröte verborgen und tappt zusammen mit Orpheus durch den Innenraum
eines geschlossenen Flügels über Saiten und Schotter, nur ab und zu
zwischen langen Phasen der Unbewegtheit absichtslos einen Klang erzeugend. Wir
wissen von ihr nur mittelbar über zwei kleine Videokameras die innerhalb
von 25 Minuten das Flügelinnere überstreichen. Eine verkapselte liaison
dangereuse im Erdgeschoss, mit Orpheus als Schildkröte, der/die den
Flügel als letzte Evolutionsstufe der Leier bespielt, deren erste Formen
über Schildkrötenpanzer gespannte Saiten waren.
Es ist nicht der Orpheus der Liebesgeschichte, der Nussbaumer interessiert, sondern derjenige Orpheus, der Eurydike mit einem Blick hinter sich gelassen hat, um Theologe, Arzt, Sänger, Sternengucker und Erfinder der Schrift und der Wissenschaften überhaupt zu werden (ebd.). Es ist der Orpheus, der als Einsiedler und Eingeweihter lebt, Menschen, Tiere, Pflanzen und Steine mit seinem Gesang bezaubert, befriedet, bezwingt, und der schließlich als von Mänaden Zerissener stirbt.
Foto: Matthias Stutte
Rätsel zwei: Wo ist Orpheus? Orpheus hat keine Lieder gesungen
er hat einen Ton gesungen. Jenen Ton, der weder leise noch laut
weder tief noch hoch ist einen vollkommen unauffälligen, eigenschaftslosen
aber alles durchdringenden Ton. (ebd.) Es sind nicht organische Stimmbänder
eines Sängerdarstellers, die diesen Ton erzeugen, sondern es ist der in
dem Bunker als Ganzem inkarnierte Orpheus, der singt. Stimmgabeln unterschiedlichster
Größe erzeugen als Analogon zur Glottis den Kammerton a in
verschiedenen Lagen und Varianten, so dass eine Fülle von Schwebungen entsteht,
die fast tastbar scheinen.
Die Sängerdarsteller sind als bewegliche Artikulatoren im Kopf verortet.
Vor zwei Monitoraugen an der Stirnseite und zwei geöffneten Flügeldeckelohren
in der Peripherie des Raumes, beschreiben ihre Positionen während der Aufführung
ein Oval. Sie nehmen Mundstellungen aus dem Horrorfilm Scream ein, variieren
Artikulation und Lage des a, zitieren Koloraturen aus Liebessängerstoffen
von Monteverdi bis Wagner und Namen berühmter Sänger aus einer Autogrammkartensammlung,
zupfen Leierabwandlungen in Gestalt von Eierschneidern, tragen in Instumentenkoffern
verkapselte musikalische Fremdkörper herum sie sind die Götterlieblinge,
die übermenschlichen Maulhelden im Obergeschoss: Sie stehen zu instrumentalem
Musizieren wie ein nackter Ringer, der gegen eine gut bewaffnete und gedrillte
Armee antritt [...]. Die Feinde im Rücken, ist die Pose seine Arbeitshaltung.
(ebd.)
Zur Abwehr der Sirenen, die Orpheus als Kampfsänger übertönt,
findet Nussbaumer einen neuen Weg: Er stopft ihnen den Schlund. Er verhindert
die Artikulation mit der Zunge durch eine Zunge, durch eine Schweinezunge aus
der Fleischerei, die die Sirene knebelt und zugleich hybridisiert: Halb Tier,
halb Mensch sitzt sie auf einer Bank (= Felsen) im vollgelaufenen Keller (=
Meer) und betätigt eine heulende Sirene als Prothese, die ihren Gesang
substituiert.
Foto: Matthias Stutte
Es sind überraschende Lösungen wie diese, gewonnen aus der Überlagerung
der Teilbedeutungen des Polysems Sirene, die die semantische Dimension
von Nussbaumers Musik charakterisieren. Er findet sie, indem er virtuos mit
der Belegung der Variablen Erzeuger (Spieler), Erzeugungsmittel (Instrument)
und Erzeugnis (Klang/Geräusch) spielt. Klänge und Geräusche sind
immer Klänge und Geräusche von etwas, sind als Hervorgebrachte, als
Energetische gedacht. Die metonymische Relation zwischen Erzeugnis und Erzeuger
erlaubt es, von der Wirkung auf die Ursache zu schließen: Über die
Präsenz des Klangerzeugnisses allein sind so die abwesenden, primär
visuellen Kontextualisierungen in die musikalische Struktur integriert. Damit
verschiebt sich der Skopus des Musikalischen weit in andere Sinnesmodalitäten
hinein. Darin liegt das Bezwingende von Nussbaumers Musik, die in ihren ergreifendsten
Momenten einfach nur zum Heulen schön ist.
Postskriptum: Kerberos bellt zum zweiten Mal. Die Dinge sind immer auch Dinge,
Höllenhunde immer auch (Schäfer)Hunde. Das ferne Bellen in der Unterwelt
ruft den dort zuvor beim ersten Mal erlebten Schreck zurück.
Disposition zur Flucht vor einem leibhaftigen Bildnis: eine fast archaische
Reaktion.
Leicht gekürzt erschienen in: Neue Zeitschrift für Musik, 5/2003
Zur Site von Georg Nussbaumer
Foto: Matthias Stutte